Israel gegen „die Wilden“?

Savage vs. Israel

Die „Zivilisierten“? Die „Wilden“? Als ich das erste Mal die neuen Support-Israel-Plakate der Bloggerin Pamela Geller (Geschäftsführerin der American Freedom Defense Initiative) erblickte, glaubte ich an eine Parodie. Doch nein. Die milde gesagt kontroversen „Werbeplakate“ mit dem Aufruf, Israel als die „Zivilisierten“ im Krieg gegen die „Wilden“ (Palästinenser? Iran?) zu unterstützen, hängen seit kurzem in San Francisco und den Subways von New York.

“In any war between the civilized man and the savage, support the civilized man. Support Israel. Defeat Jihad”, heisst es auf dem Plakat. Die Metropolitan Transportation Authority weigerte sich anfänglich, die Plakate in den Subways aufzuhängen – mit der Begründung, die Aussage sei „erniedrigend“. Ein Bundesrichter jedoch beschloss, dass das Plakat im Rahmen der „freien Meinungsäusserung“ erlaubt werden müsse.

Der Diskurs, der die Menschheit in „Zivilisierte“ und „Wilde“ einteilt und manchen schwer an kolonialistisch-imperialistischer Zeiten erinnern mag, wurde also wieder ausgegraben. Wem all die Kriegsregeln und die Konfliktkomplexität zuviel Freizeit rauben, um sich damit zu befassen, und trotzdem mit einer Meinung zum Thema brillieren will, dem wird mit diesem Plakat nun endlich einen einfachen Guide in die Hand gedrückt: Schlägt euch bei jedem Konflikt – insbesondere bei komplexen, die zu viel Gehirnarbeit abfordern – auf die Seite der „Zivilisierten“. Und um die Zuschreibung dieser zwei Konzepte auf die involvierten Akteure braucht man sich auch nicht selbst zukümmern: im Sinne eines Happy Meals wird auf dem Silbertablett gleich mitgeliefert, wer denn nun den Stempel „Zivilisierte“ oder „Wilde“ geniessen darf. Und wieso sollte man sich denn nicht auf die Seite der „Wilden“ schlagen? Eben weil sie „wild“ sind. Ende der Argumentation.

..und all dies trotz der Tatsache, dass sich die Geschichte nur all zu oft eingestehen musste, dass sich diese zwei Konzepte als soziale Konstrukte bewiesen haben und sich die „Zivilisierten“ oft wilder benommen haben als die „Wilden“ selbst.

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Like some Vietnam War movie

Ein 7-jähriges palästinensisches Kind wird von israelischen Soldaten geschlagen, gefesselt, und verhaftet.

„Mein Gott, das kann ja mal passieren im Kriegsumfeld“

„Unsere Soldaten, stationiert in der West Bank, sind ausschliesslich für unseren (Israels) existentiellen Schutz und Überleben dort“

„Diese Soldaten sind doch nur einige wenige Bad apples

… Wirklich? Die tägliche Realität in den besetzten Gebieten kann diesen Aussagen leider nicht recht geben. Kürzlich veröffentliche Berichte israelischer Soldaten deuten darauf hin, dass die Verletzung universeller Rechte von Kindern systematische Handlungs- muster innerhalb der israelischen Armee sind. Die Folgen? Palästinensische Kinder werden schon im jungen Alter gedemütigt. Ein weiterer Stein in der Spirale der Gewalt ist damit gelegt. Dazu zahlt auch die israelische Gesellschaft einen moralischen Preis, indem sie das palästinensische Zivilvolk mit militärischen Mitteln dominiert. „Ein moralischer Zerfall der israelischen Gesellschaft“, hat dies eine israelische Friedensaktivistin genannt.

Checkpoint 56, Hebron, Westbank (Dez 2011). Palästinensische Schulkinder durchqueren diesen Checkpoint jeden Tag.

Zwei Berichte israelischer Soldaten über die Behandlung von Kindern in den besetzten palästinensischen Gebieten: 

Wer? Unit: Nahal Brigade, Rank: First Sergeant

Wo? Hebron (eine besetzte palästinensische Stadt in der West Bank: 30’000 Palästinenser, 500 extremistische israelische Siedler, und 2000 stationierte israelische Soldaten zum „Schutz“ der Siedler), 2010.

„On your first arrest mission, you’re sure it’s a big deal, and it’s actually bullshit. You enter the Abu Sneina (Hebron) neighborhood and pick up three children. After that whole briefing, you’re there with your bulletproof vest and helmet and stuck with that ridiculous mission of separating women and children. It’s all taken so seriously and then what you end up with is a bunch of kids, you blindfold and shackle them and drive them to the police station at Givat Ha’avot. That’s it, it goes on for months and you eventually stop thinking there are any terrorists out there, you stop believing there’s an enemy, it’s always some children or adolescents or some doctor we took out. You never know their names, you never talk with them, they always cry, shit in their pants.“

Wer? Unit: Armored Corps, Rank: First Sergeant

Wo? Nablus (besetzte palästinensische Stadt, West Bank), 2005.

„At first you point your gun at some five-year-old kid, and feel bad afterward, saying it’s not right. Then you get to a point where… you get so nervous and sick of going into a village and getting stones thrown at you. But it’s obvious, you’re inside the village, you’ve just passed the school house, naturally the kids will throw stones at you. Once my driver got out, and without blinking, just grabbed some kid and beat him to a pulp.

(…) These were already the more ‘serious’ guys, the ones who throw Molotov cocktails. In order to get them out, detain and interrogate them, we’d catch them – my company commander caught a 12-year-old kid there once, and made him get down on his knees in the middle of the street. Yelled like a madman – it looked like some Vietnam War movie.“

Mehr direkte Einblicke in die Realität der besetzten Gebiete aus Sicht israelischer Soldaten, und auch ihre persönlichen Gedanken darüber, gibt es hier.

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Besetzung oder Ente, das ist die Frage.

Sprache kreiert Realität – das wissen wir alle spätestens seit George Orwells Zukunftsroman 1984. Der Roman beschreibt eine zukünftige fiktive Gesellschaft, in der 2+2=5 gibt, wenn man nur fest genug daran glaubt, in der die Haft- und Folterlager des Systems Lustlager heißen, und Staatsparolen wie Krieg ist Frieden, Freiheit ist Sklaverei oder Unwissenheit ist Stärke das Realitätsdenken formen. Auch ich wurde letzte Woche von der israelischen Regierung in meiner Realitätswahrnehmung ‚umgeschult‘. Was ich nämlich in meinem dreimonatigen Einsatz in den besetzten palästinensischen Gebieten (so definiert seit 44 Jahren nach UN Resolutionen) miterlebt haben sollte, sei alles, jedoch keine Besetzung (!).

Levy: “If it beats like an occupation, if it oppresses like an occupation, if it kills like an occupation, it’s a…” Bibi: “A duck!”
Anmerkung: Links das religiösen Likudmitglieds Edmund Levy, rechts der amtierende israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu
(Photo: John Brown)

Dies geht jedenfalls einem Bericht hervor, in Auftrag gegeben von der israelischen Regierung unter dem amtierenden konservativen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu. Der offizielle Bericht kommt zum Schluss, dass es „in Israel keine Besetzung gibt“. Wenn es nach diesem Bericht geht, muss ich in meinen drei Monaten Einsatz in einer Traumwelt gelebt und mir eingebildet haben, dass eine palästinensische Bevölkerung einer israelischen Militärbesatzung oft willkürlich ausgeliefert ist. Ein Träumer war ich ja schon immer, aber dass es gleich so gravierend steht um meine Wahrnehmung?

Für die ‚Beweisführung‘ des Berichts wurde eine von der Regierung eigens kreierte Richterinstanz, das Levy-Kommitee, an Land gezogen. Bestehend aus drei Juristen, darunter dem ehemaligen Richter des israelischen Obersten Gerichtshofes und religiösen Likudmitglieds Edmund Levy. Er empfiehlt als Fazit die Eingemeindung von Judea und Samaria (die biblischen Namen für die heutigen palästinensischen Gebiete) zu Israel. Dies käme faktisch der Aneignung der Gebiete, in denen heute über 2,5 Mio Palästinenser leben, in einen jüdischen Staat gleich.

Der Trick: Nur lange genug ‚präsent sein‘ bzw. ‚besetzen’…

Eines der Argumente des Bericht besagt, dass eine Besatzung per Definition nur kurzfristig sein kann. Da Israel jedoch nun schon seit vier Jahrzehnten in der West Bank ‚präsent‘ sei, könnte die Situation nicht mehr als Besatzung definiert werden. Daher seien die jüdischen Siedlungen in der West Bank legal (und ebenso die bisher nach israelischem Recht illegalen Siedler-Aussenposten, die „Outposts“). Nach internationalem Recht sind die israelischen Siedlungen mit ihren unterdessen 500’000 israelischen Einwohnern illegal – der Transfer der eigenen Bevölkerung in besetztes Gebiet wurde nach internationalem Konsens als illegal deklariert.

Was man also aus diesem Bericht lernen kann: Du musst das Haus deines Nachbarn nur lange genug besetzen, die dort wohnende Familie lange genug unterdrücken, diskriminieren und erniedrigen – so lange, bis diese an sich absurde, asymmetrische Realität zur Normalität geworden ist und du zusätzlich eine theoretische Untermauerung darlegen kannst, wieso denn diese, unterdessen institutionalisierte, Unterdrückung nun keine Besetzung mehr sei.

South africa flashbacks?

Länderübergreifend werden immer mehr Stimmen laut, welche den dortigen Status quo der Trennung von Menschengruppen auch Apartheid nennen. Dazu eine eindrucksvolle Randbemerkung meines Schweizer Menschenrechtsbeobachter-Kollegen Christian Schelbert, der momentan in Yanoun im Einsatz ist: Sein Menschenrechtsbeobachter-Team ist von 5 auf 4 Personen geschrumpft. Ein dunkelhäutiges Team-Mitglied aus Südafrika musste frühzeitig ihren Einsatz beenden. Als selbst ehemalige Betroffene der Apartheid in Südafrika löste die Konfrontation mit Separation, der Diskriminierung der Palästinenser und der Trennungs-Mauer bei ihr Flashbacks aus. Diese manifestierten sich in solch ernsthaften körperlichen Symptomen, sodass sie frühzeitig wieder abreisen musste (Randnotiz: Psychosomatische Symptome sind gängige Erscheinungen bei sich wiederholenden Konfrontationen mit ehemaligen Traumata).

Tell me if you still see the occupation

Zurück zum Bericht des Ley-Kommitees: Was waren israelischen Reaktionen auf den Bericht?

Nach der Veröffentlichung des Levy-Berichts gab es unzählige israelische Parodien darauf im Web, wie das folgende Beispiel.
Eden Abergil (Soldatin): „Listen, I’m gonna take off the blindfold (Augenbinde). Tell me if you still see the occupation“
(Picture: Ami Kaufman)

Das Knesset-Mitglied Arieh Eldad dagegen meinte zustimmend, dass der Levy-Bericht ein Ende bereiten würde bezüglich der “Muslim occupation of the Land of Israel that began 1300 years ago”. Ja, Realität mag eine sehr subjektive Angelegenheit sein – trotzdem scheint mir diese (offensichtlich religiös motivierte) Wahrnehmung erstens sehr virtuell zu sein, und ausserdem nicht hilfreich für eine gerechte Lösung der aktuellen Konfliktprobleme.

Beständige Verneinung?

Yariv Oppenheimer, der Direktor der israelischen Friedensorganisation Peace Now, hält dagegen nicht viel vom Levy-Bericht: „No jurist in the world would refer to this political manifesto as a serious report“, wie Channel 10 ihn zitierte. Das Berichts-Kommitee sei vom israelischen Rechtsflügel kreiert worden und „the conclusion that there is no occupation proves that the committee members are living in continuous denial“.

„Dad, what’s beyond that wall?“ „I don’t see any wall, dear son“ „Come on, it’s right there“ „Just shut up“
(Picture: Amir Schiby)

Das Gesetz der absurden Regeln

Auch Michael Sfard, der Anwalt der israelischen Menschenrechts-Organisation Yesh Din, hat den Bericht verrissen. Nach ihm legitimiere und autorisiere der Bericht Verbrechen – und diese Aufgabe habe das Kommitee vollkommen erfüllt. „It is not a legal report but an ideological report that ignores basic principles of the rule of law“, sagte Sfard. Dazu zog er Parallelen zu Alice im Wunderland: „It seems as though the committee members fell down the rabbit hole, and their report was written in Wonderland where the law of the absurd rules – there is no occupation, no illegal outposts, and seemingly no Palestinian state. It must be said in the language of Alice [in Wonderland]: This is the most stupid tea party I’ve seen in my life.“

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Doku-Tipps

Für diejenigen, deren Interesse am Israel-Palästina Konflikt immer noch nicht völlig abgelöscht hat, im Sinne von ‚Die da unten sollen sich doch selbst die Köpfe einschlagen, ohne mich!‘ – der darf sich die folgenden, sehr sehenswerten Filmchen antun:

DEFAMATION (dt.: Diffamierung, Verleumdung) – absolut zu empfehlende Doku des israelischen Regisseurs Yoav Shamir. Er macht sich auf die Reise, um den Anti-Semitismus ausfindig zu machen, den er am eigenen Körper selbst nie erlebt hat – obwohl doch im Glauben grossgezogen, dass ein Holocaust hinter dem nächsten Ecken wartet.

Ausserdem begleitet seine Kamera u.a. eine israelische Schulklasse auf ihrer ‚Bildungs-Reise‘ nach Ausschwitz. Von psychologische Begleitung für die Teenager keine Spur. Diese Begleitung übernimmt der israelische Geheimdienst, der ihnen beibringt, dass Polen vor Anti-Semiten berstet und man daher aus Sicherheitsgründen die Abende lieber im Hotel verbringt. Ein verstörender und höchst unterhaltender Film.

 

Rafeef Ziadah – WE TEACH LIFE, SIR

„Ms. Ziadah, don’t you think that everything would be resolved if you would just stop teaching so much hatred to your children?“

Ein authentisches und bewegendes Gedicht der Palästinenserin Rafeef Ziadah, die bei dieser Frage eines Journalisten in ihrem Innersten nach sehr viel Geduld suchen muss, während die Bomben über Gaza fallen.

 

Auf Sf Kultur gibts ausserdem sehr sehenswerte Interviews und Dokus über den Konflikt, aus israelischer sowie palästinensischer Sicht.

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Unvorhersehbarkeit oder WHAT THE …?

Momente, Zeit-punkte, in denen das Denken ausschaltet, hat wahrscheinlich jeder von uns schon erlebt. Wenn die Verarbeitung im eigenen Kopf der umgebenden Welt meilenweit hinterher hinkt. Wenn man sieht, was passiert, aber nicht begreift, was passiert.

Vor allem Konfliktgebiete haben es ja so an sich, dass Unvorhersehbares geschieht. Das israelische System der Besetzung der palästinensischen Gebiete scheint von aussen als Kontrollsystem sehr stabil zu sein – existiert es doch nach 44 Jahren immer noch. Innerhalb dieses Systems jedoch ist der Alltag der palästinensischen Bevölkerung von Unberechenbarkeit und Willkür geprägt – damit sie immer wieder daran erinnert werden, dass sie unter einer fremden Militärherrschaft leben.

Unverhofft kommt oft, das hatte ich daher als Menschenrechtsbeobachterin in den besetzten palästinensischen Gebieten schnell gelernt. Eine Überdosis Lernstoff bekam ich während einer meiner Beobachtungs-Schichten am Checkpoint Wadi Nar diesen Januar.

  • Was?     Wadi Nar, ein Verkehr-Checkpoint, nur passierbar für Autos. Früher auch ‚The Container‘ genannt – nicht der einladendenste Name für einen Checkpoint.
  • Wo?     Inmitten den besetzten palästinensischen Gebieten, auf der Hauptstrasse, welche die palästinensischen Städte Bethlehem im Süden mit Ramallah im Norden verbindet.
  • Wer kontrolliert?     Das israelische Militär bzw. 4-6 israelische Soldaten während ihres obligatorischen Militäreinsatzes: Jungs im höheren Teenager-Alter, um die 19 oder 20 Jahre – ein schwer bewaffneter Kindergarten.
  • Wer wird kontrolliert?     Fahrzeuge von PalästinenserInnen.
  • Problem von Checkpoints?     Jeder Palästinenser wird wie ein potentieller Terrorist behandelt – in seinen eigenen Gebieten. Mithilfe von ca. 514 Checkpoints (Stand: Jan 2011) kann die israelische Armee die besetzten Gebiete hermetisch abgeriegeln. Dies führt zu einer extremen Beschneidung der Bewegungsfreiheit für Palästinenser. Hat u.a. zum wirtschaftlichen Kollaps in der palästinensischen Gesellschaft beigetragen, da landwirtschaftliche Güter ihr Ziel nicht mehr erreichen können.
  • Probleme am Checkpoint Wadi Nar?     Willkürliches Festhalten und Durchsuchen von Fahrzeugen, Leibesvisitationen, grosse Rückstaus.

Wadi Nar: Mini-Checkpoint nannten wir ihn auch – neben dem Checkpoint eine Mini-Festung mit Mini-Mauer und Mini-Wachturm. Während unser wöchentlichen 2-Stunden-Schicht beobachteten mein Arbeitskollege und ich den Checkpoint von der nördlichen Seite der Strassenkreuzung. Der Checkpoint befindet sich ca. 100 Meter weiter auf der südlichen Seite. Ein näherer Beobachtungspunkt wurde uns vom Militär verboten. (Jan 2012)

Ein sonniger Nachmittag in der Westbank…

Mein Arbeitskollege und ich, mit unserer rudimentären Standardausrüstung für die Menschenrechts-Beobachtung: unsere Westen mit unzähligen Verstau-Möglichkeiten, Kamera und Handy (!), Passport (ohne kommt man in den von Checkpoints durchzogenen Gebieten nicht weit), Stift und auszufüllende Reporte (für Berichterstattungen, sollte sich in unserer Nähe gerade jemand menschenrechtswidrig über jemand anderen hermachen). Wir zählen die Anzahl der Autos in beide Richtungen und knipsen zu Dokumentationszwecken ab und zu Fotos. Der Himmel ist wolkenlos, die Sonne macht schläfrig. Am Checkpoint stehen einzelne Autos mit palästinensischen Nummernschildern. Sie wurden zu Kontrollzwecken angehalten. Kurz schweift mein Blick vom Checkpoint ab, über die kargen Steinwüsten und Sträucher der uns umgebenden runden Hügel der Westbank. Meine Augen wandern zurück zum Checkpoint – plötzlich scheinen alle Soldaten wie vom Erdboden verschwunden zu sein. Alarmiert schau ich genauer hin. Geduckt rennen sie wieselartig zwischen den stehenden Autos in Richtung Strassenkreuzung. In unsere Richtung. Vor der Kreuzung nehmen sie sofort hinter Betonblöcken Stellung, ihre Maschinenpistolen im Anschlag auf die Kreuzung gerichtet. Geradeaus, ca. 15 Meter vor mir, schaue ich direkt in eine Mündung. Ein –  einem Menschenrechtsbeobachter wohl nicht allzu ehrwürdiges – „What the f..?“ ist das einzige, was mein Kopf produzieren kann, und dies auch nur in Gedankenform.

Irritiert schau ich mich um: Wer/wo ist die anscheinende Gefahr? Ausser einem Esel, der seelenruhig an einzelnen Gräsern knabbert (etwa ein ‚Terroristen‘-Esel?), sehe ich zu diesem Zeitpunkt keine Menschenseele. Ausser uns zwei Menschenrechtsbeobachtern. Hinter uns vereinzelte kleine Häuser, auch dort niemand sichtbar. Das Spiel ‚Ich sehe wen, den du nicht siehst?‘ also mal in einer etwas spezielleren Ausgabe? Rufe eines Soldaten auf Hebräisch. Wer ist gemeint? Was wird gesagt? Wie sollen wir uns verhalten? Nicht bewegen? Oder so schnell wie möglich weg?

Und während die Situation schon wieder erstarrt ist – wir wie angewurzelt, die Soldaten in Position auf der anderen Strassenseite (und eine sonstige imaginäre Gefahr für die Soldaten irgendwo in unserem Rücken?) – , läuft mein Denken immer noch im Leerlauf.

„Wie reagieren Sie in unvorhergesehenen Situationen? – eine typische Frage im Bewerbungsgespräch. Leerlauf wäre also meine derzeitige Antwort. Das Einzige, was in der Zwischenzeit gelaufen ist, waren unsere Füsse. Diese bewegten sich langsam nach rechts, mit einem immer grösser werdenden Winkel zu den Waffenmündungen – zu unserer Erleichterung folgten uns diese auch nicht, während wir die Soldaten immer im Augenwinkel behielten. Bevor es mir überhaupt kalt den Rücken hinunter laufen konnte, war das Spektakel schon wieder vorbei. Die Soldaten erhoben sich, diskutierten aufgeregt, und verzogen sich zurück an den Checkpoint. Als wäre nie was gewesen, gingen wir alle an unsere reguläre Arbeit zurück. Den Rest des Nachmittags blieb unsere Kamera jedoch in der Westentasche. Wir wollten nicht unnötig provozieren. Das Ganze mag nicht länger als ein paar Sekunden oder eine Minute gedauert haben – das subjektive Zeitgefühl war während des Vorfalls ausgeschaltet.

Zu schnell ging es, um Angst zu haben. Auf eine merkwürdige Art gehörte es zur Routine. Mein einzige Empfindung war ‚Unangenehm‘ – nicht mehr, nicht weniger. Schlagwort Normalisierung. So erging es mir und meinen Arbeitskollegen generell an den Checkpoints: anfangs riefen diese Orte ein Gefühl von Angst hervor. Bald aber wird die Angst zu äusserer und dann zu rein innerer Nervosität. Und schlussendlich fühlt man gar nichts mehr.

Was das Ereignis an diesem sonnigen Nachmittag am Checkpoint jedoch hauptsächlich zurückliess, war Verwirrung. War wirkliche Gefahr für die Soldaten präsent? War es nur ein Militärtraining? Waren wir gar nie in Gefahr oder hatten wir haarscharf Glück? Dies sind Dinge, die wir, wie so vieles anderes, nie herausgefunden haben. Unser Ur-Reflex, alles und jedem Sinn zu geben, blieb hier kläglich unbefriedigt.

Das Bedrohliche an der Situation waren nicht primär die Waffen (durch ihre permanente Präsenz in den besetzten Gebieten waren sie schon ein Teil des Gesamtbildes für mich geworden). Es war die Schnelligkeit der Ereignisse, die Spannung in der Luft und den Mangel an Kommunikation, der zwischen uns und den Soldaten geherrscht hatte. Zusammengefasst: die Unvorhersehbarkeit. Für mich glücklicherweise ein einmaliges Ereignis: Wie muss es jedoch sein, tagtäglich so zu leben? Kontrolle von aussen und Unvorhersehbarkeit. Zwei Extreme, innerhalb denen PalästinenserInnen ihren Alltag bewältigen müssen. Ein Gefühl der Willkür und der Unkontrollierbarkeit des eigenen Lebens.

Checkpoint 56, Hebron, Westbank (Dez 2011). Schulkinder müssen hier den Checkpoint jeden Tag durchqueren.

Nicht nur einmal wurde meine Geduld beim Durchgang an den israelischen Checkpoints aufs Äusserste auf die Probe. Wieso lässt das israelische Militär Menschen an einem Checkpoint z.B. einfach 45 min lang stehen? Kann die Willkür und Unvorhersehbarkeit psychologisch als Waffe zur Aufrechterhaltung der Kontrolle dienen?

Der Willkür sind jedoch nicht nur Palästinenser, sondern auch Israelis ausgeliefert.

Auf Seiten der Israelis:

Beispielsweise sind 10’000e Einwohner der südlichen israelischen Städte als willkürliche Ziele von Hamas- Raketen bedroht. Seit 2001 starben 33 israelis durch Raketen in der Nähe Gazas, letztes Jahr 1 Person (Quelle: Btselem). Ansonsten gab es vor dem letzten Anschlag in Jerusalem im März 2011 für drei Jahre keine grösseren Anschläge in Israel selbst. Der kollektive Angstzustand in Israel hat sich daher in den letzten Jahren beruhigt. Da jedoch oft die Abriegelungspolitik inkl. der Checkpoints für die Abwesenheit von Attentaten verantwortlich gemacht wird, unterstützen viele Israelis diese Politik. Auf den damit einhergehenden sozialen Schaden auf palästinensischer Seite wird dabei selten Rücksicht genommen.

Anderes Beispiel: “Gewissensgefangene” – Haftstrafen für Israelis, die den obligatorischen Militärdienst in den besetzten palästinensischen Gebieten verweigern (im 2011: 12 Personen).

Auf Seiten der 4,4 Mio Palästinenser in Gaza und der Westbank: (Amnesty International, 2011)

Ready for it? (dabei bitte im Kopf behalten, dass Israel eine selbst ernannte ‚Demokratie‘ ist)

  • Israels Blockade von Gaza, welche die dortige humanitäre Krise verschärft
  • Beschränkung der Bewegungsfreiheit durch 500 Checkpoints und Barrieren
  • Zwangsvertreibung
  • Exzessive Gewaltanwendung des israelischen Militärs gegen palästinensische Zivilisten, auch gegen gewaltlose Demonstranten
  • Straflosigkeit für israelische SoldatenInnen und SiedlerInnen trotz Menschenrechtsverletzungen
  • Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren (bis zu zwei Jahre) und unfaire Gerichtsverfahren vor Militärgerichten. In der Westbank können an der tupfgleichen Stelle  ein Palästinenser oder ein jüdischer Israeli – beides Zivilisten – das gleiche Verbrechen verüben. Der Israeli kommt vor das israelische Zivilgericht, der Palästinenser vors Militärgericht.
  • Regelmässige Folter und Misshandlung, Beschränkung von Meinungsfreiheit und Zusammenschlüssen (gilt nicht nur für das israelische Militär, sondern auch für die Hamas und die Palästinensische Autorität)

Auf einen dramatischen Schlusssatz verzichte ich hier. Peace & Love 😉

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Eine gewalt-ige Mauer

Als ‚Narbe in der Landschaft‘ hatte ein Palästinenser sie mir beschrieben. Genannt wird sie auch Rassentrennungs- oder Apartheid-Mauer (v.a. aus palästinensischer Sicht), Sicherheits-, Anti-Terrorismus-Barriere oder Zaun (v.a. aus israelischer Sicht). Wer jegliche politische Konnotation vermeiden möchte, dem bleibt immer noch das Schlupfloch ‚the Wall‘; ganz einfach ‚die Mauer‘. Von Israel erbaut, trennt sie Israel von den besetzten palästinensischen Gebieten – dabei eignet sie sich jedoch auch grosse Teile dieser Gebiete an. Was ich nach 3 Monaten und vielen Gesprächen mit Palästinensern über diese Mauer herausgespürt habe, ist vor allem Schmerz. Viel Schmerz.

Eine visuelle Reise entlang dieser höchst umstrittenen Mauer:

25. Dez 2011. Bethlehem, eine palästinensische Stadt in der Westbank, seit 44 Jahren von Israel illegal besetztes Gebiet. Daran, dass die Mauer sowohl im Bewusstsein der palästinensischen Bevölkerung sowie in der Realität immer präsent ist, wurde ich wieder einmal an diesem regnerischen Weihnachts-Morgen erinnert. Verschlafen hatte ich mich von meinem Hotelbett erhoben und zog die Vorhänge der Fenster beiseite. Ein Blick nach rechts…

Die Palästinenserin Leila Khaled – hier mit einer AK-47 – erlangte ab 1969 öffentliche Aufmerksamkeit. Sie war damals als 25-Jährige an zwei Flugentführungen, eine davon der ‚Schwarze September‘, beteiligt. (Bethlehem, Dez 2011)

Während meinem morgendlichen Recken und Strecken am Fenster fragte ich mich sodann, ob sogar diese Übung aus lauter Langweile von den israelischen Soldaten im Wachturm ins Visier genommen wird. Wie so vieles hier: Who knows.

Dann ein Blick nach links…

Anscheinend die ‚grösste illegale Fotoausstellung der Welt‘: Überdimensionale Gesichts-Portraits von Israelis und Palästinensern, die der berühmte anonyme Künstler JR auf die Mauer anbringen liess. In der Konfliktrealität wird oft kategorisch zwischen Israelis und Palästinensern unterschieden – äusserlich sind sie jedoch oft un-unterscheidbar, wie die Bilder zeigen. (Bethlehem, Dez 2011)

Etwas Befremdendes hatte diese Hotelzimmer-Aussicht ja schon. Rabatt gabs für diese, nicht nur wettermässig trübe, Aussicht auch nicht. Trotzdem: authentisch allemal für besetzte Gebiete, dachte ich mir, und begab mich auf einen Mauer-Spaziergang in den strömenden Regen.

The Wall: 708 km lang (fast doppelt so lang wie die von der UN anerkannten Grenze), davon 61,8% erbaut, 8,2% in Konstruktion, und 30% in Planung. Wenn fertiggestellt, wird die Mauer zu 85% in palästinensischem Gebiet verlaufen. Dabei eignet sich Israel 9.4% der palästinenischen Gebiete an, inklusive Ostjerusalem, dem religiösen und wirtschaftlichen Zentrum vieler in den palästinensischen Gebieten lebenden Menschen. (Jerusalem, Dez 2011)

Venengleich schlängelt sich die Mauer mitten durch Ostjerusalem, durch Vorstädte, Dörfer, Täler und über Hügel. Mancherorts frisst sie sich wie einzelne Finger tief in palästinensisches Gebiet. Nicht die Mauer selbst ist nach internationalem Recht illegal. Jedes Land, Israel inklusive, darf sich zum eigenen Schutz einzäunen. Illegal ist der spezifisch expansive Mauerverlauf. Der Mauerbau wurde 2002 nach der zweiten, gewaltsamen palästinensischen Intifada initiiert – offiziell für den Schutz israelischer Bürger gegen palästinensische Selbstmord-Attentäter (Fazit der Intifada: 1036 israelische Tote – knapp die Hälfte starb in Selbstmord-Attentaten / 3592 Tote auf palästinensischer Seite). Der rasante Rückgang an Selbstmord-Attentätern nach dem Beginn des Mauerbaus scheint diese Sicht oberflächlich zu bestätigen. Der Rücklauf kann jedoch auch eine interne palästinensische Entscheidung widerspiegeln: das wachsende Bewusstsein am Ende der Intifada, dass Selbstmord-Attentäter die eigenen Ziele delegitimieren und zu einer noch repressiveren Antwort von Seiten Israels führen. Den Mauerbau nur durch Sicherheitsgründe zu rechtfertigen, ist daher sehr umstritten. Das Gegenteil ist eher der Fall – die illegale Aneignung fremden palästinensischen Ackerlandes bringt eher ein Sicherheitsrisiko mit sich, als Sicherheit und Frieden für Israel. Mit den Worten eines palästinensischen Taxifahrers: „Die Israelis werden ihr ganzes Leben lang Angst haben, wenn sie Land stehlen“.

Die nachfolgenden Bilder sind alle auf der palästinensischen Seite der Mauer entstanden:

Wird die Mauer eines Tages fertig gebaut sein, wird sie nur noch von Checkpoints, Gates, und Überwachungstürmen unterbrochen sein. (Bethlehem, Dez 2011)

Schaut da auch wer auf mich herunter? Israelischer Wachturm inmitten von Bethlehem, in die Mauer integriert. (Dez 2011)

Ein eigener Staat und damit Selbstbestimmung ist der Traum vieler PalästinenserInnen. (Bethlehem, Dez 2011)

‚Hass kann nicht Hass austreiben‘ (Bethlehem, Dez 2011)

‚Die ganze Welt schaut zu‘ (Bethlehem, Dez 2011)

‚Da ist dein Ball‘. Etwas vom Wenigen, was die Menschen beider Seiten noch austauschen, wenn auch nicht beabsichtigt: Bälle. Weniger versehentlich als diese Bälle fliegen dann schon die wechselseitigen Raketen über die Mauer bei Gaza <-> Israel. (Bethlehem, Dez 2011)

Weiter geht die Mauer-Reise nach Ostjerusalem. Der Mauerbau hat nicht nur viele Palästinenser von ihrem Ackerland getrennt, sondern auch vom Zugang zu Arbeitsplätzen, Bildung, Spitälern, und selbst ihren Familien – all dies durch die Kontrolle freier Bewegung.

„Auf der anderen Seite wohnen meine Cousins“: Ibrahim, ein Palästinenser in seinem Haus in Ostjerusalem, Blick gegen die Westbank. „Wie soll man seinen Nachbarn überhaupt lieben, wenn man ihn nicht einmal besuchen kann?“ Wie kann man seinen Feind lieben, wenn man ihn nicht einmal zu Gesicht bekommt?, frag ich mich da. (Ostjerusalem, 2011)

Ich stehe in Ostjerusalem und schaue über ein frisch erbautes Mauerstück auf das dicht besiedelte palästinensische Flüchtlingslager Shu’fat. Dieses anfänglich provisorische Flüchtlingslager ist im Laufe seiner 44-jährige Existenz definitiv geworden. (Ostjerusalem, Dez 2011)

Israel hat Ostjerusalem 1981 nach internationalem Recht illegal annektiert. Nach der Taktik ‚Land, jedoch ohne Palästinenser‘ hat die israelische Regierung die Palästinenser im Shu’fat Flüchtlingslager nun von ihrer Stadt Jerusalem wortwörtlich ‚ausgeschlossen‘. Ihr Zugang zu Jerusalem wird dadurch sehr erschwert, wenn nicht verunmöglicht.

Ein Loch in der Mauer. Hier beim noch ‚primitiven‘ Checkpoint zum Shu’fat Flüchtlingslager. Unterdessen wurde ein grosser Checkpoint gebaut – täglich durchqueren ihn ca. 7’000 palästinensische Kinder auf dem Weg zur Schule. (Ostjerusalem, Dez 2011)

Im Flüchtlingslager Shu’fat, Blick auf die Abfallhalde hinter der Mauer. Nach internationalem humanitärem Recht wäre Israel verpflichtet, für die Infrastruktur und Sicherheit von Zivilisten in besetzten Gebieten zu sorgen, wie in diesem Fall im Flüchtlingslager. Das Gegenteil ist der Fall. Das Bild ist nur ein Beispiel einer riesigen Kluft in Ostjerusalem: Palästinensische Viertel werden von der israelischen Regierung vernachlässigt. Neue jüdische Viertel dagegen werden illegal auf palästinensischem Boden erbaut, und erstrahlen bald durch saubere Strassen, stabile Häuser, und üppiges Grün. Das bedeutet: gleiches Stadtbudget – diskriminierende Verteilung. (Shu’fat, Ostjerusalem, Jan 2012)

Weiter geht die Mauer-Reise in das palästinensische Gebiet von Abu Dis. Auch dieses hat die israelische Regierung mit der Mauer von Ostjerusalem abgeschnitten. Unzählige Spuren des Schmerzes über den Verlust von Jerusalem für die hier lebenden Palästinenser sind an den Mauergraffiti abzulesen.

Zwei meiner Mitarbeiter und ich bei der Dokumentation der Mauer. (Abu Dis, Feb 2012)

(Abu Dis, Feb 2012)

Die Mauer bietet manchmal auch Platz für ausführliche literarische Aktivität (Abu Dis, Feb 2012)

(Abu Dis, Feb 2012)

(Abu Dis, Feb 2012)

(Abu Dis, Feb 2012)

‚Niemals wieder?'(Abu Dis, Feb 2012)

Physische und geistige Mauern habe ich in Israel und Palästina oft angetroffen. Gleichzeitig begegnete ich jedoch vielen Menschen, Israelis und Palästinensern, die sich nicht durch Mauern verführen lassen wollen und sich aktiv für eine friedliche Koexistenz beider Völker einsetzen. Wie die Künstler hier, die mit ihren Werken die Mauer erweichen lassen.

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Kein leichter Abschied

Vor 14 Tagen. Die Heimreise von Israel und den besetzten Gebieten zurück in die Schweiz steht bevor. Der Abschied fällt mir nicht leicht: von Jerusalem, meinem Hauptarbeitsort. Vom Hebräischen übersetzt ‚die Stadt des Friedens‘, in der Praxis jedoch einem der wohl unheiligsten Orte überhaupt. Abschied von den Menschen, vom Nebeneinander, seltener jedoch Miteinander von mentalen Welten. Dem Theater aus Gerüchen und Geräuschen. Und einem Lebensklima, welches für mich jeden Tag mit neuen Überraschungen und Herausforderungen aufwartete. Am Ben Gurion Flughafen in Tel Aviv jedenfalls bekommt der Ausdruck ‚kein leichter Abschied‘ für mich zusätzlich eine ganz neue Dimension. Denn mit Handkuss liess mich das israelische Flughafenpersonal nicht gehen.

Ein Einblick in die israelische Flughafenabfertigung:

Ich erreiche den Ben Gurion Flughafen nahe Tel Aviv, Israel: in Absatzschuhen, nettem Kleidchen und rosa Lippenstift. Wie eine Lady, kein Aktivist, um mir „Kopfschmerzen bei der Ausreise“ zu ersparen (übersetzt: stundenlange Verhöre, Einreiseverbot oder ähnliches). So jedenfalls mein Plan. Anscheinend sehen die ersten Sicherheitsleute am Eingang des Flughafens dies leider anders und picken mich gleich heraus. Der erste Fragenposten: „Wie lange in Israel? Was gemacht? Wo gewohnt? Wo gereist?“.

Ob ich spezifisch in den besetzten Gebieten oder in der Westbank war, werde ich nicht gefragt. Dies ist nicht überraschend, da ein Gebiet mit diesen Namen in vielen israelischen Köpfen überhaupt nicht existiert. Israelische Schulbücher, sowie jegliche Landkarten, die ich in Israel selbst zu Gesicht bekommen hatte, machen keinen Unterschied zwischen den besetzten Gebieten und Israel – alles wird als Israel deklariert. In der Praxis habe ich in den besetzten Gebieten jedoch ausser dem Kontrollmantel nichts ‚israelisches‘ gesehen; beispielsweise sind die dort lebenden Menschen bzw. Palästinenser nicht israelische Bürger (ausser die illegalen Siedler), und die Palästinenser geniessen auch nicht das israelische Recht, sondern leben unter Militärrecht.

Zum Schluss trägt mich der Sicherheitsmann in eine Liste ein und schickt mich an den nächsten Frageposten. Dort wird es nach dem anfänglichen „Gepäck selbst gepackt?“ schnell bohrender und detaillierter. Dabei versichert mir das Sicherheitspersonal, dies sei „wirklich nur für meine eigene Sicherheit“. Wir beide spielen dasselbe Spiel, überfreundliche-Miene-zu-ernster-Situation (und dass Lüge und Wahrheit glücklicherweise sehr dehnbare Konzepte sind, kommt mir entgegen. Menschenrechtsbeobachter sind in Israel nicht unbedingt willkommen, wie ich in meinen 3 Monaten nicht selten zu spüren bekam). Der Sicherheitsmann macht mir einen netten Eindruck. Daher nehme ich dann auch relativ perplex zur Kenntnis, dass er mir als ‚Belohnung‘ für meine Antworten einen Sticker mit der berüchtigten Nummer 6 auf meine Gepäckstücke heftet. Dazu muss man wissen: jeder Passagier bekommt bei der Ausreise nach ein paar Fragen eine Nummer zwischen 1 und 6: Nummer 1 = Null Sicherheitsrisiko (bekommen nur Leute mit israelischem Pass), Nummer 6 = das andere Extrem, auch übersetzbar mit potentiellem Terrorist.

Durchgefallen also. Mein Pokerface jedoch bleibt.

Von dem Moment, als dieser Sticker auf meinem Gepäck prangert, kriege ich permanente Begleitung. Und so werd ich dann auch durch den Flughafen eskortiert. Ein Anti-Promi sozusagen. Die Vorteile bleiben: jegliche Schlangen an den Sicherheits-, Passkontrollen oder dem Check-In dürfen übersprungen werden und ich, als anscheinendes Sicherheitsrisiko, werde überall als Erste abgefertigt. Nach der Fragen-Runde die gründliche Kontrolle meines Gepäcks: während ich ratlos herumstehe und die teils undefinierten oder mitleidigen Blicke von einzelnen anderen Passagieren ernte, wird mein Gepäck auseinandergenommen. „Und, hast du Israel genossen?“, fragt mich der junge Sicherheitsmann in Small Talk Manier. Ich überlege und erinnere mich…

...an die weissen Sandstrände in Tel Aviv, Dez 2011

...an grosszügige israelische Gastfreundschaft, die mir vereinzelt entgegengebracht wurde...an das lebhafte Tel Aviv, wo der Hedonismus in der grössten, und dazu noch köstlichsten, Restaurant-Dichte überhaupt, seine Blühten schlagen kann...Leben, welche in der Vergangenheit jedoch auch durch palästinensische Anschläge erschüttert wurden, und dadurch tiefstes Leid und weit verbreitete Angst in der israelischen Gesellschaft verursacht hatten

...und keine 60km weiter die besetzten Gebieten, die wenig Kommentar benötigen (hier vor einem der Checkpoints inmitten der Stadt Hebron, Dez 2011)

...und dort die weitverbreitete Beklemmtheit, Verzweiflung, Armut, und Unfreiheit durch Willkür (hier die 'Käfig-Gänge' für die Palästinenser im Checkpoint Qalandya, zwischen Jerusalem und Ramallah, Feb 2012)

...an die vielen Menschen, Palästinenser und Israelis, die sich gegen die gegenwärtige Situation zur Wehr setzen (hier die 'Women in Black', israelische Frauen, die seit 24 Jahren jeden Freitag gegen die Besetzung der palästinensischen Gebiete demonstrieren, Feb 2012)

Eine Demonstration von Palästinensern, Israelis, und 'Internationals' gegen die Besetzung (Jerusalem, Feb 2012)

...und meinen eigenen Alltag (im Hintergrund Jerusalem, Feb 2012)

...in dem auf das Wetter genauso selten Rücksicht genommen werden kann wie auf Gefühle der Müdigkeit (Jerusalem, 2012)

„Ja…“, bleibt meine einzige Antwort, mit sehr verhaltenem Enthusiasmus.

„Ich hoffe für dich, dass ich nichts finden werde“, fährt er weiter. „Ich hoffe für DICH, dass du etwas finden wirst – musst du das hier den ganzen Tag machen?“ Er überhört meinen leicht sarkastischen Unterton und wühlt fleissig in meiner Souvenir-Sammlung weiter (jegliche Unterlagen oder Fotos, welche auch nur einzelne Buchstaben der Worte ‚Konflikt‘ oder ‚Menschenrechte‘ beinhalten könnten, hatte ich schon per Post nach Hause geschickt. Daraufhin hatte ich jeglichen digitalen Hinweis auf die besetzten Gebiete oder meine Arbeit gelöscht).

„Da ich ein Gentleman bin, werde ich dieses Mal dein Gepäck wieder selbst zusammen packen“, wendet er sich an mich, nachdem er anscheinend nichts Verdächtiges gefunden hat. Demonstrativ komm ich ihm dann auch nicht zu Hilfe, als ich bemerke, dass er anscheinend nicht so viel Übung in seiner Gentlemen-Rolle hat. Als seine Packfähigkeiten ihn dann tatsächlich zwingen, sich sogar weibliche Verstärkung anderweitig zu holen, kann ich es nicht mehr mit ansehen und nehme die Sache doch wieder selbst in die Hand. Ich lächle in mich hinein. Denn das einzige, was nicht unter die Lupe genommen wurde, war ein grosser, dünner Atlas (den ich aus Formatgründen schlecht in die Schweiz schicken konnte). Dieser Atlas, eine Art Mappe, zeigt dutzende Landkarten und Illustrationen jeglicher Checkpoints, Militärzonen, (illegalen) israelischen Siedlungen und vielem mehr innerhalb der besetzten palästinensischen Gebiete. Diese Karten, von UNocha ausgestellt und öffentlich zugänglich, hätten mir wahrscheinlich noch ein paar mehr unangenehme Fragen bereitet. Solche Informationen sind doch nur mit einiger Kreativität kompatibel mit meinem ‚Kirchenprogramm‘, welches ich anscheinend besucht hatte.

...selten eine gute Idee, zu erwähnen, dass man in den besetzten palästinensischen Gebieten war - nicht einmal aus Feriengründen.

„Kommen Sie in einen separaten Raum mit“, werde ich sodann von jungem, weiblichem Sicherheitspersonal aufgefordert. Der Marathon geht also weiter. ‚Separater Raum‘ hören meine Ohren jedoch nicht gerne. Eine befreundete Studentin aus Kalifornien musste sich am gleichen Flughafen in einem separatem Raum bis auf die Unterwäsche ausziehen. „Degradierend“ sei es gewesen, auch wenn nur weibliches Sicherheitspersonal präsent gewesen war. Einer anderen finnischen Freundin wurde im Dezember – nach 2-wöchigem Touristenaufenthalt in Jerusalem – der Flug verweigert. Sie hatte sich der Aufforderung widersetzt, ihren BH auszuziehen. Am gleichen Tag schaltete sie die finnische Botschaft ein und buchte einen neuen Flug. Am neuen Abflugdatum verzichtete sie gänzlich auf das Tragen eines BHs, um das Thema von Grund auf zu vermeiden. Schlussendlich wurde sie dann durch den Flughafen eskortiert – ohne eine einzige Frage gestellt bekommen zu haben.

Vor meiner Abreise hatte mich ein israelischer Freund aufgeklärt, wieso ich bei der Abreise in Schwierigkeiten geraten könnte: „Das Sicherheitspersonal wird dich fragen, wieso du nicht in Syrien am beobachten bist (wo die Lage ihrer Meinung nach viel prekärer ist), sondern hier in den besetzten Gebieten. Und könnten dich dann für einen Antisemiten und eine Sicherheitsgefahr für Israel halten“.

„Wofür bin ich in diesem Raum?“, frage ich das Sicherheitspersonal, als wir sodann den separaten Raum betreten. „Wir haben so unsere Art zu arbeiten“. Ah ja, sympathisch. Meine Horrorvorstellung bezüglich Leibesvisitation treffen jedoch nicht ein: ich werde, angezogen, nur gründlichst mit Metalldetektoren untersucht. Erst vorne, dann hinten, sogar der Spitzensaum meines Kleider wird abgetastet. Eine kurze indirekte Kopfmassage (die Waffensammlung in meinem feinen Haar wurde glücklicherweise übersehen), und kurze Fussmassage. Am Schluss fügt sie hinzu: „Ich hoffe, ich werde einmal so viel Geld haben, dass ich diesen Job nicht mehr machen muss“. Ich wünsche ihr viel Glück.

Am Ende des Marathons werde ich mit den Worten „Das war’s schon“ vom Sicherheitspersonal zu meinem Flughafenbus verabschiedet. Wie beim Doktor: hat ja gar nicht so weh getan. Alles in allem eine freundliche Behandlung durch das Sicherheitspersonal. Später im Flugzeug nach Hause denke ich an meine vorangegangene Nervosität während der gründlichen Vorbereitung und meine Ängste beim tatsächlichen Ablauf am Flughafen. Als Einschüchterung empfinde ich es, als eine Art psychologischen Terrors. Ich fühle mich unter Druck, meine Arbeit als Menschenrechtsbeobachterin zu verstecken. Diese ist zwar im rechtlichen Sinne völlig legal, hier scheint sie jedoch oft unerwünscht zu sein – in der ‚einzigen Demokratie des Nahen Ostens’…

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Von Kriegern und Terroristen

„Wenn jemand israelische Zivilpersonen, Soldaten, oder Sicherheitswächter angreift, all das ist ein Terrorist.“ Alex ist Israeli, 30 Jahre alt und Sicherheitswärter am Checkpoint Zaytoun. Er hat eine der überdimensionalen automatischen Maschinenpistolen umgehängt, für die mein Bewusstsein unterdessen, nach drei Monaten in der Westbank, jedoch nicht mehr Beachtung übrig hat wie für eine herkömmlich umgehängte Handtasche. Es ist 6.30 morgens, ich hab meine Morgenschicht – als Beobachterin – vor dem Checkpoint Zaytoun.

Der Checkpoint Zaytoun ist Teil der Trennungsmauer in Ost-Jerusalem. Diese Mauer, gebaut durch Israel, ist zweimal so lang wie die von der UN anerkannten grünen Linie, da sie sich tief in palästinensisches Land hinein schlängelt. Sie trennt so palästinensische Dörfer von ihrem Ackerland. Letzteres wird dann von Israel konfisziert, um darauf Siedlungen zu bauen.

Im 'Innern' des Checkpoint Zaytoun

Checkpoint Zaytoun: Hier warten palästinensische Kinder beim Ausgang auf ihre Mutter.

Einzig die Lampen hoch über mir beleuchten den Nieselregen, der sonst von der dunklen, kalten Nacht verschluckt wird. Neben mir tritt ein Sicherheitswärter aus dem Checkpoint. Während ich von PalästinenserInnen meist willkommen geheissen werde, sind die Begegnungen mit israelischen Soldaten oder Sicherheitswärtern (einige der über 100 Checkpoints wurden durch Sicherheitsfirmen privatisiert) schon unvorhersehbarer.

Anfänglicher Argwohn dominiert meistens, beiderseits. Ihre Umgehensweise mit uns internationalen BeobachterInnen reicht von Neugier, schroffen Befehlen oder einer Abkehr bis zu völligem Ignorieren. Nach dem anfänglichen Taxieren kommt Alex zu mir hinüber und erkundigt sich in gebrochenem Englisch, ob ich studiert hätte. Auf meine Bejahung hin entgegnet er ohne Nachfrage meinerseits, er hätte auch studiert, in Israel. Sicherheit und Anti-Terrorismus. „Ich habe viel gekämpft und geschossen“, erzählt er mir. „Magst du das?“, frage ich. „Ja“, entgegnet er mit einem fast scheuen Lächeln und sieht zu Boden.

Welche Besetzung…?

Als ich ihn auf die Besetzung der West Bank ansprechen will, verwundert es mich wenig, dass er zurück fragt: „Welche Besetzung?“

Internationales Recht garantiert den PalästinenserInnen, Widerstand gegen die Besetzung ausüben zu dürfen (zuletzt explizit erwähnt vom internationalen Gerichtshof bei seinem Statement zum Verlauf der Mauer, 2004). Wird der Status Quo einer Besetzung aber nicht anerkannt, ist dieses Recht hinfällig. In dieser Sicht scheint es auch irrelevant, dass sich die in der Westbank lebenden 2,5 Mio PalästinenserInnen selbst als ein besetztes Volk bezeichnen, dass ein asymmetrisches Machtverhältnis existiert, indem die eine Partei (Israel) das tagtägliche Leben der anderen Partei (Palästinenser) einseitig ‚kontrolliert‘ und daher das Gebiet kaum als ‚umkämpft‘ beschrieben werden kann. Wie Alex propagiert diese national-religiös unterlegte Sicht auf den Konflikt die Rückkehr der Juden ins heiliges Land – nach 2000 Jahren.

‚Terrorismus‘ teilweise als Symptom von Besetzung?

Während ich Alex zuhöre, scheint mir immer mehr, dass diese Sichtweise sowohl das ‚Weggli wie auch das Fünferli‘ möchte: Besetzung der Westbank inklusive Landaneignung durch expansive Besiedelung und Kontrolle über die palästinensische Bevölkerung – jedoch ohne Menschen, die sich dagegen wehren.

Die Westbank als ‚umkämpftes‘ statt ‚besetztes‘ Gebiet zu deklarieren, macht es einfacher für die Seite der Besetzer: das asymmetrische Machtverhältnis wird ignoriert und jeglichen Widerstand als Terrorismus denunziert. Diese Sicht schliesst aus, dass diese ‚Terroristen‘ aus einem Gebiet kommen, in dem seit 44 Jahren den dort lebenden Menschen oft nicht einmal die grundlegendsten Rechte garantiert werden; deren Durchsetzung nach internationalem Recht einer militärischen Besatzung jedoch vorgeschrieben sind (siehe humanitäres Völkerrecht, Artikel 42-56). Jeglicher Massenwiderstand der Bevölkerung wird durch die Fragmentierung der palästinensischen Gebiete mit Hilfe von Checkpoints und weiteren Hindernissen schon im Kerne erstickt. Dazu lassen Diskussionen um neue Gesetzgebungen zu Anti-Terrorismus Gewalt gegen die palästinensische Zivilbevölkerung als legitimes Mittel erscheinen.

Der israelische Vorwurf von Terrorismus geht weit über Mitglieder von Hamas hinaus. Hier Hamas-Plakat im Flüchtlingslager Shu'fat (Jerusalem)

Terrorismus, das ‚absichtliche und systematische Attackieren von Zivilisten, um zu politischen Zwecken Angst einzuflössen‘ (Definition von ‚Terrorismus‘ des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu in seinem Buch ‚Fighting Terrorism‘) ist in jedem Fall zu verurteilen, egal welche Seite, und ob Regierungen oder Individuen, dies verübt. Dass die israelische Regierung dann trotz den vielen Menschenrechtsverletzungen, welche sie begeht, als unbestrittene Demokratie herauskommt, die palästinensische Seite jedoch in jedem Fall als Terroristen abgestempelt wird, gibt doch zu denken.

Kann es bei 'Terrorismus' einen 'Gewinner' geben? Cartoon entdeckt während dem Reisen in der Westbank.

Anstatt in der Endlosschlaufe zu wiederholen, dass es den Terroristen doch einzig und allein darum gehen würde, zu töten, ist mir die Berücksichtigung umfassenderer Motivationen, welche den politischen und sozialen Kontext mit einbeziehen, unerlässlich. Und vielleicht nur ein erster kleiner Schritt, die Wurzeln dieser Gewalt zu beseitigen. „Aber die Araber hassen uns doch“, ist von israelischer Seite oft zu hören. Mag teilweise stimmen: andererseits kann kein halbwegs vernünftiger Mensch erwarten, 44 Jahre lang ein Volk zu besetzen und dafür deren Liebe zu ernten. Auch nicht heute, am Valentinstag,  an dem ich von Palästinensern am Checkpoint mit „Happy Valentine!“ statt dem üblichen „Good morning“ überschüttet werde.

„Sie kamen für einen Krieg, nicht um ein Haus abzureissen“

Auch die PalästinenserInnen selbst scheinen sich bewusst zu sein, welche Assoziationen und Stereotypen über ihr eigenes Volk existieren. Heute bei einer unserer Berichterstattungen über ein Hausabriss in Ostjerusalem erzählt mir der zufällig anwesende palästinensische Journalist Jameel (er ist der Nachbar der nun obdachlosen palästinensischen Familie, deren Haus zerstört wurde): „Nebst den Bulldozern tauchte die Armee und Polizei mit 35 Fahrzeugen (etwa 150 Soldaten und Polizisten) auf. In ihrer Anzahl kamen sie für einen Krieg – nicht um ein einstöckiges Haus abzureissen. Ich bin kein Kämpfer und ich bin kein Terrorist, ich will nur, dass sich niemand über mein Land hermacht.“ Der Hauseigentümer muss den Hausabriss, welcher auf seinem eigenen Land stattgefunden hat, selbst bezahlen: 20’000 Dollar. Auf seinem Land soll ein Freizeit-Park für Israelis gebaut werden.

Macht ‚unmachen‘

Am Checkpoint Zaytoun verfärben die ersten Sonnenstrahlen den Horizont violett. „Es war nett, dich zu treffen“, sagt Alex zum Abschied. Später ruft er mich herbei: „Dein Name ist jüdisch“. „Ich weiss“, entgegne ich.

Selbst Checkpoints (wie hier Zaytoun) können den Anblick der Sonnenaufgänge über den Hügeln der Westbank nicht vermiesen.

Erst später wird mir das erste Mal bewusst, dass ich seine Maschinenpistole keines Blickes gewürdigt hatte. Wieso? Hat sich der Anblick dieser Waffen durch den Alltag hier schon so normalisiert? Vielleicht. Vielleicht wollte ich die Waffe auch unbewusst verneinen – um damit in meinem und Alex‘ Bewusstsein das zweifellos physisch ungleiche Machtverhältnis nicht offensichtlicher machen. Die Waffe hartnäckig zu ignorieren, als existiere sie überhaupt nicht. Und damit der Versuch, über unsere Weltansichten, die kaum weiter auseinanderklaffen könnten, hinweg zu sehen – um dahinter den Menschen zu erkennen.

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Soldat abzugeben! (oder: Der vergessene Soldat)

Intuitiv wollte ich zur Abwechslung hier eine ‚menschliche Geschichte‘ ankündigen. Leider muss ich jedoch zugeben, dass für mich alle Geschichten aus Palästina/Israel ‚menschlich‘ sind. Ob grausame oder berührend schöne; ob gewaltreiche oder gewaltlose; die Akteure werden immer Menschen bleiben. Gewalt scheint mir aus dieser Perspektive nicht weniger ‚menschlich‘, da ja ausgeführt als Reaktion von Menschen auf bestimmte Umstände, auf beiden Seiten. Daher sag ich lieber, dass dies eine Geschichte über einen winzigen Zwischenfall ist, ein kleines Aufflammen von Hoffnung; eine der Geschichten, die auf dem nicht endenden Schachbrett politischer Slogans leicht untergehen können.

Es passierte vor ziemlich genau einer Woche, dass sich ein junger israelischer Soldat plötzlich im palästinensischen Dorf Budrus wiederfand, mitten in der Nacht und mutterseelenallein (allein jedenfalls, wenn man die dort wohnenden PalästinenserInnen als Menschen einer ‚anderen‘ bzw. ‚feindlichen‘ Kategorie betrachten würde, wie das in Konfliktgebieten so gebräuchlich ist). Wie war dieser Soldat dort gestrandet? Es passierte während einer israelischen Militäroperation im Dorf Budrus, in der Nähe von Ramallah. Ramallah liegt in der Westbank bzw. in den palästinensischen Gebieten. Die Westbank wird seit 44 Jahren von Israel besetzt und die dort lebenden 2,5 Millionen Palästinenser befinden sich unter israelischem Militärrecht.

Israelische Soldaten beim Besuch des Holocaust Museums in Jerusalem

Nach israelischen Medienreporten jedenfalls war eine militärische Einheit nachts mit einem Konvoi von fünf Jeeps in das Dorf eingedrungen. Kurze Zeit später verliess die Einheit das Dorf wieder – jedoch mit einem Soldaten weniger, was von der Einheit aber anscheinend nicht bemerkt wurde. Diesem unabsichtlich zurückgelassenen Soldaten war vorab befohlen worden, eine Strassenkreuzung zu sichern, um potentielle palästinensische Steinwerfer abzuschrecken. Währenddessen verlor er Kontakt mit seiner Einheit. Laut einem Dorfbewohner wendete sich der Soldat darauf verängstigt an zwei palästinensische Dorfältere und fragte um Rat, wie er das Dorf verlassen könnte (man muss dazu wissen, dass die meisten israelischen Soldaten gerade mal zwischen 19 und 22 Jahren sind, wenn sie ihren 2- bis 3-jährigen Militäreinsatz absitzen). Um eine Konfrontation mit der palästinensischen Dorfjugend zu vermeiden, begleiteten die Dorfälteren den Soldaten zu Fuss zur Trennungsmauer zwischen Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten. Dort trafen sie zufällig auf eine andere israelische Einheit, die den ‚verlorengegangenen‘ Soldaten in Empfang nahm.

„Der Zwischenfall (in Budrus) ist zweifellos ein schwerer operativer Fehler“, sagte ein israelischer Offizier der ‚Judea und Samaria Division‘ – verantwortlich für die Aktivität des israelischen Militärs in der Westbank – am nächsten Tag. „Der Feind wartet nur auf eine Gelegenheit, einen Soldaten zu kidnappen – besonders innerhalb seiner eigenen Gebiete“.

Israelischer Soldat beim Beten vor dem Holocaust Museum

Dieses berührende Ereignis jedenfalls hat das Gegenteil gezeigt. Natürlich könnte man diese Geste nun einfach als isolierten Einzelfall abtun, welcher daher nicht repräsentativ für ‚den Feind‘ sei (oder vielleicht doch?). „Wie kann man seinen Nächsten oder Nachbarn lieben, wenn man ihn nicht einmal besuchen kann (z. B. aufgrund der Trennungsmauer)?“, fragte mich vor kurzem ein Palästinenser rhetorisch. Wie kann man gleichermassen überhaupt Vorurteile überwinden, wenn man den Menschen ‚auf der anderen Seite‘ von vornherein nur als Feind wahrnimmt? Solche persönlichen Ereignisse wie jenes des Soldaten können genau die Erfahrungen sein, welche eingefahrene Denkmuster ins Wanken bringen; die nachdenklich machen und Feindbilder überarbeiten lassen. Wie auch immer: der Soldat wird diese Nacht, hoffentlich, nicht so schnell vergessen.

Verkehrte Rollen: Ein Graffiti vom britischen Street Artist Banksy in der Stadt Bethlehem.

Aufgefallen im grossartigen 'Museum on the Seam' (http://www.mots.org.il/Eng/Index.asp) in Jerusalem: Ein Soldat zum Zusammenbauen in Lebensgrösse.

Als Nachtrag: Budrus wurde in den Medien bekannt für seine unzähligen gewaltlosen Demonstrationen gegen den Verlauf der Trennungsmauer, deren Konstruktion nach der zweiten Intifada im Jahr 2002 initiiert wurde. Untenstehend der Trailer eines Film, welcher die gewaltlose Bewegung in diesem Dorf dokumentiert.

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Zeugnis demolierter Existenzen

Hausdemolierung Nr.1 / 24.1.12 / in Anata, Ostjerusalem - nach internationalem Recht illegal besetztes Land durch Israel.

„Die Zerstörung eines Hauses ist die Zerstörung einer Familie“. Dies sind die Worte von S. Shawamreh, eines palästinensischen Familienvaters. Sein Haus in Jerusalem wurde vor einer Woche von der israelischen Behörde, mit Hilfe des Militärs, abgerissen. Einer der in der Vergangenheit von Israel oft genannten Gründe für den Abriss palästinensischer Häuser war die Bestrafung oder Abschreckung palästinensischer Selbstmordattentäter. Shawamreh’s Zitat jedoch lässt in mir Zweifel aufkommen, ob diese Strategie nicht genau das kreiert, was unterbunden werden will.

Was war passiert? Mitten in der Nacht hatten wir einen Anruf bekommen: „Hauszerstörungen in Anata im Gange!“ Am nächsten Tag machten wir uns auf den Weg, um die Schauplätze bei Tageslicht zu besichtigen und zu dokumentieren. Kurz bevor wir den ersten Ort erreichten, passiert uns in der Gegenrichtung schon ein Fahrzeug des Roten Kreuzes.

Wir betrachten das erste Haus bzw. was noch davon übrig ist: Ein grauer Schutthaufen, herausragende Metallstangen, davor eine Anhäufung von Möbeln, daneben palästinensische Frauen sitzend. Auch ein Jeep der UNO, die es in Jerusalem wie Sand am Meer gibt, ist schon zur Stelle.

In den Trümmern des Hauses ein Käfig mit zwei toten Kanarienvögeln. Es macht deutlich, wie wenig Zeit der Familie gegeben wurde, ihr Haus zu verlassen.

Drei Tage zuvor hatte die Familie Amar – ein Vater mit seinen zwei Frauen und 17 Kindern – von der israelischen Behörde den Befehl bekommen, ihr Haus zu verlassen. Trotz des Befehls blieb die Familie jedoch im Haus. Wieso? Sobald in Ostjerusalem oder der Westbank von der israelischen Behörde ein Abrissbefehl für palästinensische Häuser ausgestellt wird, tauchen die israelischen Bulldozer am gleichen Tag, Woche, Jahr oder nie auf – meistens ohne Warnung bezüglich eines Abrissdatums.

Die Familie hatte "Glück": ihnen wurden vor dem Abriss wenige Minuten gegeben, wenigstens Teile ihrer Möbel ins Freie zu räumen.

Um drei Uhr Nachts hatten ca.100 israelische Soldaten und einige Bulldozer die Familie aus dem Schlaf gerissen. Der Vater widersetzte sich dem Abriss und wurde dabei von einem der Soldaten im Gesicht leicht verletzt. Das Haus wurde in Trümmer gelegt, dann verschwand das Militär.

Im Hintergrund die schon aufgebauten weissen Zelte des Roten Kreuzes: es wird bis auf Weiteres das einzige Dach über dem Kopf der Familie sein, bei gegenwärtigen 5 Grad Celcius Nachts.

"We won't leave our home": Graffiti an der Trennungsmauer hinter dem zerstörten Haus

Zwei Stunden vor dem Abriss dieses Hauses hatte das Militär schon andere Häuser heimgesucht. „Wahrscheinlich hatten sich die Soldaten in der Zwischenzeit für eine Teepause in ihre Militärstation zurückgezogen, um Kräfte zu tanken“, sagt mir ein Palästinenser mit angedeutetem, jedoch verbittertem Schmunzeln. Wir machen uns also auf den Weg zur nächsten Leidensgeschichte.

Hausdemolierung Nr.2: Das Ehepaar Shawamreh vor ihrem Haus, Augst 2011 (Bild: http://www.icahd.org/?p=8129)

Abgerissenes Haus (23. Jan 2012), im Hintergrund auf dem Hügel eine Militärstation. „Vor 20 Jahren kauften wir dieses Land", erzählt mir der Vater Shawamreh, „was bringt mir jedoch Land, welches auf meinen Namen registriert ist, ich darauf jedoch nicht einmal ein Zelt bauen kann?! Das einzige, was wir wollen, ist ein Zuhause, wie jeder andere auf dieser Welt!“

Der nächste Trümmerhaufen, Familie Shawamreh: Ihr Haus wurde seit 1998 schon fünf Mal abgerissen. Drei Mal hatte er eine Baubewilligung beantragt, dafür 15’000 Dollar gezahlt. Genehmigt wurde keine einzige – zahlen musste er trotzdem. Für ihn sei es wie ein Erdbeben, sagt der aufgebrachte Vater; ob er damit nur den Zustand seines Hauses, oder auch sein eigenes, inneres Befinden meint, kann ich nur erraten.

„Wir sind zweifache Flüchtlinge“, erzählt mir der Vater. „1948 mussten wir aus Israel in die Altstadt Ostjerusalems flüchten. Als Israel 1967 Ostjerusalem illegal besetzte und aneignete, flüchteten wir von der Altstadt  in ein Flüchtlingslager am Stadtrand. Doch Israel will uns einfach nicht hier haben. Während sich die illegalen israelischen Siedlungen um uns seit 40 Jahren immer mehr vergrössern, wurde den Palästinensern nicht erlaubt, auf ihrem eigenen Land einen Meter weiter zu expandieren. Wo sollen denn unsere Kinder leben, wenn sie heiraten?“

Die Tochter der Familie Shawamreh, daneben aus dem Haus gerettete Kissen und Matratzen. Im Hintergrund die Hügel der Westbank.

Wieso werden palästinensische Häuser durch die israelische Behörde demoliert? Die Gründe sind vielfältig: Nicht-Besitz von Baubewilligungen (deren Erwerb theoretisch möglich ist, in der Praxis jedoch selten an Palästinenser ausgestellt werden); die palästinensischen Häuser seien zu nah an israelischen Siedlungen oder Strassen, welche exklusiv von Israelis benutzt werden dürfen (obwohl die Häuser zuerst dort waren); das ‚Reinigen‘ von grossflächigen Landteilen für Militär- und Sicherheitszwecken; oder die kollektive Bestrafung von Familien von Selbstmordattentätern oder generelle Abschreckung für solche, die unter einem solchen Verdacht stehen – dies stellt jedoch nach internationalem humanitärem Recht ein Kriegsverbrechen dar, genauso wie der Akt des Selbstmordattentäters selbst.

Auch das Prinzip der ‚Abschreckung‘ ist fraglich: laut einer Studie von E. Serraj des ‚Gaza Community Mental Health Program‘ existiert eine hohe Korrelation zwischen Menschen, die zu Selbstmordattentätern werden, und solchen, deren Haus in der Vergangenheit von der israelischen Behörde demoliert worden war. Diese Verbindung, auch wenn nicht explizit kausal, ist nicht verwunderlich: Folgen von Hausdemolierungen können nach Forschungen u.a. Stress-bezogene Gesundheitsprobleme, Hausgewalt, oder Traumatisierung mit sich ziehen, speziell für Kinder.

Demolierung Nr.3: Nicht einmal einen Tag nach dem Abriss der sechs Hütten - bewohnt von 13 Erwachsenen und 20 Kindern - haben die palästinensischen Familien schon wieder die Grundstruktur einer neuen Unterkunft aufgebaut.

Nicht nur die Häuser selbst werden demoliert; in Jerusalem wurde das System eingeführt, dass Palästinenser den Abriss ihres Hauses selbst bezahlen müssen – welches auch das Mittagessen für die Soldaten der Besatzungsmacht beinhalten kann, wie wir vor kurzem von M. Margalit, einem Mitglied des Stadtrats Jerusalems, aufgeklärt wurden. Zusätzlich müssen die Palästinenser hohe Strafen zahlen, da ‚illegal‘ gebaut wurde. Um diesen immensen Kosten zu entgehen, haben die ‚Selbst-Demolierungen‘ der Häuser durch Palästinenser selbst zugenommen. Was in den offiziellen Statistiken ersichtlich ist: weniger  palästinensische Häuser werden durch Israel in Jerusalem demoliert (z.B. Im 2010 ein Rückgang von 112 auf 97 Fälle) – die USA wird sich befriedigt zurücklehnen. Wer jedoch genauer hinschaut, wird eine steigende Zahl von ‚Selbst-Demolierungen‘ nicht übersehen können (im 2010 eine Erhöhung von 49 auf 70 Fälle, jedoch wird eine noch höhere Grauzahl vermutet). 2011 gab es einen Rückgang an Hausdemolierungen jeglicher Art – dies auch aufgrund besonders starken internationalen Druckes.

Während jedes Land Vorschriften für Bauplanung hat, ist nach der israelischen Bürgerrechtsgruppe ‚ICAHD‘ (Israeli Commitee Against House Demolitions) Israel das einzige westliche Land, welches einer spezifischen nationalen Gruppe systematisch Baubewilligungen verwehrt und deren Häuser demoliert. Diese Ausgangslage zwingt die PalästinenserInnen, ‚illegal‘ zu bauen. Israelische Mitglieder von ICAHD ketten sich als Akt von Solidarität und Widerstand beispielsweise an vom Abriss bedrohte palästinensische Häuser.

Unabhängig der Motive für diese Bauvorschriften (‚Sicherheit‘ oder die ‚Judaisierung Jerusalems‘ – von Israel offiziell im ‚Masterplan2020‘ festgehalten ), verletzt diese Politik die fundamentalen Menschenrechte der PalästinenserInnen. Die genannten Vorschriften führen dazu, dass PalästinenserInnen zum forcierten Verlassen des eigenen Landes gezwungen werden, auch ‚leiser Transfer‘ genannt. Laut der Vierten Genfer Konvention ist eine Besatzungsmacht, in diesem Fall Israel, verpflichtet, für die Sicherheit und das Wohlergehen der Menschen unter der Besatzung zu sorgen – das scheint hier jedoch mehr eine Utopie zu sein.

Das Einzige, was den Menschen übrig bleibt: weiter machen. Wieder aufbauen. Und warten, bis der nächste Abrissbefehl ins Haus flattert.

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